Um sich in die Champagne einzufühlen ist nichts besser, als eine Fahrt dorthin. Die Gastlichkeit und das Lebensgefühl vor Ort nehmen doch einige Schleier weg, die den Mythos Champagner umgeben. Was dahinter zum Vorschein kommt, ist (oft) mitnichten der befürchtete Industriezombie, sondern eine –  nich lückenlos umwerfend schöne, aber immerhin sehr sehr geile, teilweise – Weinbauregion wie es sie gewiss so oder so ähnlich überall auf der Welt gibt, mit einem Boden, den es dann schon nicht mehr ganz überall auf der Welt gibt und einem Weinbauvölkchen, das entgegen aller von Interessenvertretern unterschiedlichster Herkunft hochgepeitschten Wahrnehmung doch überwiegend, auch preislich, auf dem Boden geblieben ist. 

Wenn man aus welchem Grund auch immer nicht jedes oder jedes zweite Wochenende in der Champagne verbringen kann, schadet ein Herantasten in Flaschenform nicht und wenn ich, was vorkommen soll, darum gebeten werde, dann stelle ich diese kleinen Reisesurrogate zusammen. 

I.1. Champagne Bissinger (Lidl)

Ein Discounterchampagner zum einnorden sollte dabei sein. Der schmeckt nicht zum weglaufen, aber schon ein wenig so, wie ich in der Schule meine Hausaufgaben erldigt habe, wovon ich nur deshalb heute noch so detailverliebt berichten kann, weil die wenigen Male mir in guter Erionnerung geblieben sind. Der Lidl-Champagner schmeckt also gerade nach dem in Erfüllung der Mindestvorgaben für Chmpagner allernötigsten. Durchaus saftig und noch nicht einmal simpel, aber auch nicht mit besonderer Ambition zur Reife. Komplexität oder irgendetwas, das die Palette hochwertiger menschlicher Emotionen anrührt findet sich nicht. Muss auch nicht, der Discountsprudel ist ja nur das Sprungbrett.

I. Vincent Couche Blanc de Blancs Perle de Nacre Extra Brut

Den saftigen Charakter nimmt der Champagner von Vincent Couche auf und zirkelt drauf, dran und drumherum ein Gebäude wie es die chinesischen und/oder vietnamesichen Küchenkünstler mit Wssermelonen machen, denen sie die kunstvollsten Szenerien einschnitzen. Das ist zwar noch nicht gleichzusetzen mit der großen Küchenkunst an sich, aber zeigt bedeutende handwerkliche Fähigkeiten und so wie Wassermelone schlichtweg jedem schmeckt, schmeckt auch die Perle de Nacre sicher einer breiten Menge trotz ihrer für Blanc de Blancs untypischen, geradezu rotfruchtigen Eigenschaften.

I.3 Michel Turgy Blanc de Blancs Grand Cru

Ein Blanc de Blancs von klassischerem Zuschnitt mit dennoch eigenem Gepräge ist der von Turgy, dessen Jahrgänge ich schon seit Jahren wie närrisch kaufe, um sie dann immer viel zu schnell wieder ausgetrunken zu haben und mich wegen meiner Gier zu bemitleiden. Ganz auf diesem Niveau spielt der jahrgangslose Chardonnay von Turgy nicht, aber er ist so kräftig, mit dickem Kreidebelag ausgestattet und nicht zu sauer, so dass Ersttrinker von ihm nicht verschreckt werden. Zwei Champagner, die nach dem Lidlstoff klarmachen, was der Unterschied zwischen einer einfachen Basiscuvée und individuellem Chardonnay ist.  

II.1 Moussé Blanc de Noirs

80PM 20PN aus Cuisles, Jonquery, Châtillon sur Marne und Vandière, 24 Monate auf der Hefe

Sehr delikat war danach der Übergang zum Gegenkonzept Blanc de Noirs. Cedric Moussé gehört nach 12 Generationen Weinbau innerhalb der Familie nun zur neuesten Generation junger Winzer, zu der ich beispielsweise auch Jean-Marc Séleque und Thibaud Brocard zähle, deren Champagnerhandschrift noch nicht ganz ausgefeilt ist, deren Kreationn aber unbedingt verfolgenswert sind. Der Blanc de Noirs von Moussé, der sich bestens auf Pinot Meunier versteht, zeichnet sich durch das wohlige, weiche, fruchtige und unkomplizierte, aber nicht einfältige Meunier-Element aus, das von einem eleganten Spätburgunderaufsatz gekrönt wird. Dieser Übergang vom Blanc de Blancs zum Pinotchampagner ist ein leichter.  

II.2 Bernard Tornay Blanc de Noirs Grand Cru

Mit dem Pinoit aus Bouzy, der dann von Bernard Tornay ins Glas kam, fiel es schon schwerer, sich anzufreunden. Hier war doch sehr viel Kastanie, Honig, auch Hustenmedizin und Rosmarin mit drin, das machte den Champagner langsam als würde beim drag racing der Bremsschirm aufgehen oder eine Pistolenkugel im kriminaltechnischen Prüflabor in einen Jellyglibber geschossen, um das Projektil zu sichern. Zu Illustrationszwecken ist das eine richtige und gute Entscheidung, für den Sologenuss würde ich ehrlicherweise einen anderen Champagner vorziehen, sei es von Tornay selbst (der Palais des Dames zum Beispiel) oder von anderen Könnern im Ort (Maurice Vesselle, Benoit Lahaye, André Clouet, um nur die ersten Namen zu nennen, die mir spontan dazu einfallen). 

III.1 Serge Mathieu Millésime 2008

100PN

Die Reise geht weiter zu Serge Mathieu und damit an die Aube. Der 2008er Jahrgang, ein Champagner voller Ebenmaß und innerem Gleichgewicht, obwohl die Rebsorte taositisches Yin verkörpern müsste, strenggenommen; bzw. eigentlich stimmts ja doch, denn die schwarze Rebsorte mit dem weißen Saft hat in der vorliegenden Form weiße Charakterzüge abbekommen, also Leichtigkeit, Frische, weißes Fruchtfleisch und ein sonnenhelles Gemüt, so dass das buddhistische Bild nicht ganz verkehrt ist. 

III.2 Chartogne-Taillet Millésime 2008 

60PN 40CH, von ca. 30 Jahre alte Anlagen in der Lage Les Couarres

Merfy, mit 84% auf der échelle des crus unter jedem Radar, ist ein Ort, der das klassische System der Grands und Premiers Crus ad absurdum führt. Qualitativ ist der 2008er von Alexandre Chartogne locker im oberen Premier Cru Bereich einer, de lege ferenda, noch zu kreierenden Skala. Fetter als der Aubepinot, was auch die fortgeschrittenen Verkoster bei diesem flight in die Irre zu führen geeignet war. Bei genauen hinsehen konnte man aber beim Aubechampagner die typische Malzigkeit, Kräuterzucker und Grotrinde feststellen, wenngleich in ungewöhnlich nidriger Dosis, während der Jahrgang aus dem Norden frei davon war und sich damit zu erkennen gab.   

IV.1 Marie-Courtin Cuvée Concordance

Alte Pinot Noirs (gepflanzt 1968) aus Massenselktion, im alten Barrique mit weinbergseigenen Hefen vinifiziert, ohne Schwefelzugabe, ohne Dosage. Kompromissloses Zeug. Der schwefelfreie Champagner von Dominique Moreau hatte deshalb die knifflige Aufgabe, in einer kontrollierten Kollision mitzuwirken, einem Frontalaufprall von ganz kleinem und ganz großem Erzeuger. Die Concordance stürzte sich mit Vergnügen in die Auseinandersetzung und legte gewaltig vor. Am Gaumen krachte und splitterte es nur so vor brechendem Kirschbaumholz, schwarzer Johannisbeere, Amalfizitrone und Biscuit. So viel Chaos, so viel Aktion, so viel Kraft auf einmal in einem Glas – schwer, das zu toppen, das war allen am Tisch klar.  

IV.2 Dom Pérignon 2004

Ich kann nicht behaupten, dass der Dom Pérignon 2004, von dem ich sehr viel halte, den Champagner von Marie-Courtin getoppt hätte. Weder mühelos, noch unter Anstrengung. Es war vielmehr so, dass die beiden Champagner überhaupt keinen spürbaren Kontakt zueinander aufgebaut haben und das, obwohl sie unter viel Getöse hätten ineinanderknallen sollen. Der Dom ging der Concordance auch noch nicht einmal hochmütig aus dem Weg, sondern es war mehr wie eine Begegnung auf andrer, unkörperlicher Ebene. Der 2004er Dom bewegte sich nah am vollständig ausgefüllten Phasenraum, so viele Aromatrajektorien oszillierten darin kreuzungsfrei herum, während die Marie-Courtin sich mindestens ebenso dicht am Urknall positioniert hatte. Beide Champagner habe ich so noch nie nebeneinander probiert und war deshalb selbst a überraschtesten vom flight.  

V.1 Drappier Rosé

Vitalisierend, gut durchblutet und mit aller drappiertypischen Eleganz, der man die komplizierten Verstrebungen in ihrem Inneren nicht ansah, kam die Rosécuvée ins Glas und erlöste die Gaumen nach dem Tritonus des vorherigen flights, nicht ohne angeschweppeste Gesichter zu hinterlassen, die den herbfischen Quitten-, Chinin-, Sanddornton des Champagners nach dem ruhevollen Dom Pérignon erst wieder verkraften lernen mussten. 

V.2 Piper-Heidsieck Rosé Sauvage

Nach dem Saignéerosé kam ein anderer alter Bekannter an die Reihe, der wie Kirschmarmelade auf Pumpernickel schmeckte und damit zu verstehen gab, dass er die allererste Zeit nach der Freigabe schon hinter sich gelassen hat. Ein Jammer, fiel mir in dem Moment auf, dass da nicht vorab ein Degorgierdatum zur Handreichung dienlich war, denn dann häte ich wahrscheinlich zum eigenen größeren Vergnügen nicht einen so großen Kontrast zwischen den Rosés gewählt. Didaktisch mag das in dieser Form nämlich noch vertretbar gewesen sein, aber der Piper Rosé war einfach nicht in der klassischen jugendlichen Frischeform, in der ich ihn eigentlich präsentiert haben wollte. 

VI. Janisson-Baradon Cuvée George Baradon 2001

In umso besserer Form war dafür die alte Prestigecuvée von Janisson-Baradon, die ich bei meinem letzten Aufenthalt in Epernay dem großherzigen Cyril in Person abgeschwatzt und aus dem neuen Laden direkt im Herzen des Orts herausgetragen habe, kurz bevor eine kleine Schar Hamburger Champagnerfans im weißen Rolls-Royce vorfuhr und sich bei späteren Wiedersehen zwar als sehr umgänglich erwies, in mir aber Befürchtungen hochkeimen ließ, die gewünschten raren Flaschen möglicherweise nicht mehr zu bekommen, wenn ich nicht schnell genug handelte. Tat ich ja dann zum Glück und wurde belohnt. Die letzte Cuvée George Baradon 2001 habe ich vor längerer Zeit getrunken und da war sie gut, aber schien mir auf dem absteigenden Ast. Diese jetzt war in Hochform und für mich so richtig verständlich geworden, da ich ihre beiden Einzelkomponenten, den Chardonnay Muscaté Toulette und den Pinot Noir aus der Lage Tue Boeuf zwischenzeitlich einige Male nebeneinander hin- und her hatte probieren können. Das Amalgam aus diesen beiden, wobei man sich unter dem Toulettes das Quecksilber vorstellen muss, ist wie ein Kristallnugget, in dem die formschönen Einzelmerkmale von Chardonnay-Muscaté und Pinot Noir eingeschlossen sind. Urwüchsige Knorrigkeit und schwerelose Leichtigkeit, Holz, Frucht und Säure sind hier in einem Klumoen dicht gepackt.