Die Bewohner der Champagne sind ein starker,

kriegerischer, naiver, aber auch boshafter

Menschenschlag, dessen Schwerfälligkeit

und raues Wesen an die germanische

Abstammung erinnern. Bei den übrigen

Franzosen stehen Sie im Ruf der Dummheit.

Meyer’s Großes Konversationslexikon, Leipzig und Wien, 1903

Die Angst und der Champagner

Nach S***, ganz am äußersten westlichen Rand der Champagne, gelangt man nur über eine verlassene Straße in einem Waldgebiet. Die Bäume dort machen einen degenerierten Eindruck und man wünscht sich zurück zu den mit Chardonnay und Pinot Noir bewachsenen Hügeln und Hängen im Gebiet um Reims und Epernay, dort wo die Sonne scheint und das Leben leicht ist. Wer in S*** Champagner kaufen möchte, verlangt nach einem Wein, den man auf den Karten der Restaurants dieser Welt nie finden wird. Er verlangt nach einem Wein, der überwiegend aus Pinot Meunier hergestellt wird und es nimmt nicht wunder, dass es in S*** nur ein paar wenige Winzer gibt, die dort noch Champagner herstellen.

Einer davon ist B*** H***. Thomas und ich fuhren im Mai zu einem anderen Winzer im Ort, Y*** D***, der wirklich guten Landchampagner herstellt, den man zur Gartenarbeit genau so trinken kann wie abends am festlich gedeckten Tisch. Doch wollten wir, nein: wollte ich, auch noch einen weiteren Winzer kennen lernen um zu erfahren, ob die Weine S***s alle dieselbe Typik aufweisen. Am Eingang des Geländes von H*** hieß es „Vente ici“. Das Gelände selbst war alles andere als einladend. Ein hässliches Haus mit einem Dach, das links und rechts auf den Boden reichte, davor Gerümpel und Unrat. Wir bemerkten einen großen schwarzen Hund, der – zum Glück – angekettet war vor einer kleinen Hütte. Wir fuhren um das Haus herum, suchten dort nach einem Bewohner und sahen nur noch mehr Unrat, Plastikplanen, übereinandergeschichtete Europaletten und einen alten weißen Porsche 911 – immerhin. Aber nichts, was auf die Herstellung des edelsten Weins der Welt hinwies. Wir drehten um. Thomas sagte noch: „Naja, der Hund ist ja eigentlich ganz friedlich..“ Noch im Ausklang des Wortes „friedlich“ schien der Hund nicht nur zu bellen, sondern zu brüllen und stürmte auf unseren Phaeton zu. Gefühlt machte der schwere Wagen einen angstvollen Satz zurück. Wahrscheinlich waren es nur wir, die auf den Sitzen zurückwichen. Das Tier zerrte an der Kette, als wolle es lieber ersticken als uns ungeschoren davon kommen zu lassen. Eilig fuhren wir wieder zur Ausfahrt. Den Blinker hatte ich schon nach rechts Richtung Epernay gesetzt, als eine Person von der anderen Straßenseite auf uns zu kam. Ich erinnere heute nicht mehr, ob der Mann eine Schaufel oder ein Gewehr trug, das er auf uns gerichtet hatte. Meine Höflichkeit war stärker als meine Angst und ich fragte ihn, ob er wohl Monsieur H*** sei. Er war es. Wir konnten nicht anders und parkten.

B*** H*** betrachtete uns argwöhnisch aus dem Augenwinkel, führte uns aber an dem Hund vorbei, der nun seelenruhig vor seiner Hütte lag und in der Sonne döste. Oder regnete es? Die Erinnerung ist – oh, Seligkeit – verblasst. Anerkennend äußerte ich mich über das deutsche Auto unseres Gastgebers. Er grinste mich schief an. Damals dachte ich, er ist wohl Porschefan und fühlte mich gewissermaßen stellvertretend geehrt. Heute glaube ich, dass dort ggf. auch ein Honda oder ein Citroen gestanden hätte. Je nachdem, was derjenige, der sich auf das Grundstück verirrt hatte, gefahren wäre. Sollte dort eigentlich bald noch ein großer Volkswagen stehen?

M. H*** öffnete eine Stahltür. Kaum eingetreten rief er einen Fluch aus, weil der ganze Boden etwa einen Zentimeter hoch mit Wasser bedeckt war. Oder, war es Wasser? Er wies auf einige Flaschen und teilte uns mit, dass er uns nur eine Sorte verkaufen könne. Wenn überhaupt. Aha. Thomas stand die ganze Zeit hinter mir und ich glaube, er überlegte einfach fortzurennen und mich allein zu lassen. Er wäre lieber bis nach Epernay gelaufen, als noch weiter mit M. H*** in einem Raum zu verbringen. Das Problem nämlich war, dass M. H*** ein vollkommen unverständliches Französisch sprach und uns immer wieder den Eindruck vermittelte, dass wir seltsame Eindringlinge seien, derer man sich zügig entledigen müsse. Der Dreck in seinem Lager war so anders als die liebevoll gepflegten Degustationsräume all’ der anderen Winzer, die wir schon kennen gelernt haben. Ein Kalender von 1996 hing an der Wand, überall Etiketten für Champagnerflaschen, hier und da eine Kiste und bei machen fragten wir uns, was der Inhalt wohl sein möge. Sogar die Kisten, die augenscheinlich Champagnerflaschen enthielten, machten einen verbotenen Eindruck. Irgendetwas war nicht richtig mit ihnen. Ich glaube, Thomas hat mir nie verziehen, dass ich dann auch noch fragte, ob ich den Champagner auch probieren dürfe. Da denkt Thomas an Flucht und Bitteliebergottlaßmichhierlebendrauskommen und ich sorge unbedacht dafür, dass wir noch länger bleiben müssen. Und vielleicht nicht mehr wegkommen.

Wie viel wir eigentlich kaufen wollten, war die unwirsche Frage unseres Gastgebers. Immerhin aber nahm er eine Flasche und ging mit uns ins Haus. Wir saßen in einem Wintergarten, der eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatten. Der Blick ging in den verwunschenen Wald. Wurden wir aus dem Wald heraus beobachtet? M. H*** ging, um noch eine Kühlmanschette zu holen. Da saßen wir nun und glotzten Familienbilder an, die verdächtig so aussahen, als habe er sie aus einem Katalog ausgeschnitten und dann in Bilderrahmen eingefügt. Wen die verwahrloste Wohnung beherbergen sollte, wussten wir damals noch nicht. Eine Frau jedenfalls nicht. Oder besser: nicht mehr. Die Terrasse vor dem Wintergarten bestand aus Linoleumplatten, die an allen Ecken nach oben gebogen waren. Ein verrosteter, mit Wasser gefüllter Grill stand dort. Sonst nichts.

Sauberkeit und Hygiene sind Dinge, die für die Herstellung eines guten Weins unverzichtbar zu sein scheinen. M. H*** kredenzte uns dann einen kräftigen und reifen Champagner, der uns insoweit eines Besseren belehrte. Meine Fragen nach Zusammensetzung der Trauben und Jahrgänge beantwortete er mehrfach mit einem klaren „Ich weiß es gar nicht“. Ich gab dann auf, mit unserem Gastgeber über seinen Champagner zu sprechen. Insbesondere mir aber schenkte er immer wieder nach und ich glaube, er wollte mich betrunken machen. Über den Grund kann ich nur spekulieren. Aber heute denke ich, dass er Thomas ansah, dass dieser keinerlei Gegenwehr mehr würde leisten können. Bei mir war er sich nicht so sicher. Ich fühlte mich zwar nicht in gleicher Weise bedroht wie Thomas, aber Thomas hatte bereits einen Zustand erreicht, in dem M. H*** nur noch „Buh!“ hätte rufen müssen und er wäre in eine tiefe Ohnmacht gesunken. Wir kauften dann schnell jeder eine Kiste und sahen zu, vom Grundstück herunterzukommen. Im Rückspiegel, so glaube ich zu erinnern, sah ich noch, wie M. H*** sein Gewehr auf uns anlegte, es dann aber sinken ließ.

***

Manchmal muss man, um Traumata zu verarbeiten, die traumaauslösenden Umstände erneut erleben, um darüber hinwegzukommen. Ich nutzte die Gelegenheit und fuhr einige Monate später mit meinem Freund Boris erneut in die Champagne. Boris wollte dort für verschiedene Kunden einkaufen. Mit der Begründung, der Brut Reserve aus dem Hause B*** H*** habe sehr gut geschmeckt wollte ich ihn locken, mit mir dorthin zu fahren. Zunächst waren wir bei V*** D***, der freundlichen, etwa fünfunddreißigjährigen Tochter des Winzers D*** in S***. Dort fragte ich sie nach M. H***. Ihr Gesicht verzog sich zu einer verängstigten Fratze und doch versuchte sie zu lächeln. Sie betonte mehrfach, dass sie über die Qualität seiner Weine nichts würde sagen können, aber, und das zu sagen sei ihr sicher gestattet, M. H*** sei etwa so alt wie ihr Vater. Dennoch lebe er allein mit einem Jungen, der im Alter ihrer eigenen Kinder sei, allein in diesem Haus. Sie betonte das „dieses Haus“ in einer Weise, die mich aufhorchen ließ. Was war mit dem Haus? Und, na ja, ihr Vater hätte ihr als Kind strengstens untersagt, mit M. H*** irgendwo allein zu sein. Sie äußerte dann noch, M. H*** habe, sie drückte sich etwas verschlüsselt aus, nun, er habe ein unaufgearbeitetes Gewaltproblem im Hinblick auf Frauen. Wo die Mutter des mit ihm lebenden Kindes sei, sei unklar.

Das Tor am Gelände von B*** H*** war zu und so klingelten wir. Nach schier endloser Wartezeit fragte uns eine Kinderstimme über die Sprechanlage, was wir wollten. Sie wurde unterbrochen von der Stimme M. H***, der uns ebenfalls fragte, was wir wollten. Boris versuchte, mit ihm zu sprechen, weil er besseres Französisch spricht als ich. Wir würden gern Champagner kaufen. Das Tor öffnete sich und wir traten in das Haus ein. Ein Junge sah uns mit großen Augen an und wandte sich dann wieder seinem Computerspiel zu. Hinderte die nackte Angst ihn daran, uns um Hilfe zu bitten? M. H*** starrte mich unverwandt an. Boris erklärte ihm dann, dass ich schon einmal da gewesen sei. Ja, er könne sich erinnern, ich hätte ja noch diesen anderen dabei gehabt, nicht wahr? Er führte uns in seinem immer noch vollkommen verwahrlosten Haus mit schwerem Schritt zu einem Fahrstuhl, der sich mitten im Haus befand. Das Seltsame war nicht nur, dass der Fahrstuhl voll mit Putzzeug stand, sondern vor allem, dass die vor und neben dem Fahrstuhlzugang befindlichen Türrahmen so schmal waren, dass man kaum einen quer getragenen Wäschekorb hindurchbekommen würde. Wozu um alles in der Welt braucht M. H*** den Fahrstuhl in seine Kellergewölbe, wenn er nichts hineinschaffen bzw. herausholen kann? Auf Knopfdruck verschloss sich die Tür. Nichts passierte. Ich bemerkte nur die Schweißperlen auf Boris’ Oberlippe und seine Unterlippe schien etwas zu zittern. Mit dem Monster eingeschlossen? Kein schöner Gedanke – doch der Fahrstuhl ruckte dann und es ging abwärts. Aber nur ein Stockwerk und wir waren wieder in dem mir schon bekannten, auch von außen erreichbaren feuchten Raum mit dem unsäglichen Durcheinander von Flaschen, Etiketten, Maschinerien zur Etikettierung und Verkorkung. Wann war das alles zuletzt benutzt worden? Und – was war im Geschoss darunter? Oder besser: wer? Warum waren wir nicht wieder außen herum gegangen – standen dort nun weitere Autos von ahnungslosen Touristen, die es nicht geschafft hatten?

M. H*** suchte mit schwieliger Hand nach Flaschen, die er uns verkaufen könnte. Sie lagen alle durcheinander. Er etikettierte die Flaschen dann (das war ihm sehr wichtig. Denn eine einfache Straßenkontrolle, bei der in unserem Wagen nicht etikettierte Flaschen gefunden würden, hätte dazu zu einer Untersuchung bei ihm führen können, die Dinge hätte zutage treten lassen, über die zu sprechen nicht gesund ist). Die Etiketten betrafen zwar eine andere Cuvée, aber das war ihm nicht wichtig. Das war der Blanc de Blancs. Unwillig suchte er auch sechs Flaschen Rosé zusammen. Boris, dessen Sakko verschwitzt an seinem Rücken zu kleben schien, hatte etwas Mut gefasst und wollte wissen, wie denn der Rosé hergestellt worden sei – es gibt da ja zwei Verfahren. Bei einem wird Rotwein weißem Wein hinzu gesetzt; beim anderen werden die dunklen Trauben langsamer gepresst und nehmen so die rötliche Farbe der Schalen an. Doch M. H*** starrte Boris nur aus glasigen Augen an. Da ich ihn nach wie vor kaum verstehen konnte, weiß ich auch nicht, ob er etwas von einem Betriebsgeheimnis faselte. Boris verstand ihn auch kaum und machte einen seltsam verwirrten Eindruck.

Dann waren wir wieder oben und erneut versuchte M. H***, mich abzufüllen. Diesmal gelang es ihm aber nicht. Ob ich nun zufrieden sei, herrschte er mich zweimal an. Boris musste übersetzen. Seine Lippe zitterte auch wieder und ich merkte, dass mein Freund seine schweißnassen Hände immer wieder aneinander rieb. Es ging Boris nicht gut. Der Champagner schmeckte schlicht, war aber angenehm. Es sei die Ernte eines Jahres gewesen. Und zwar vor fünf Jahren! sagte M. H***. Sollte das auch bedeuten, dass er seit fünf Jahren keine Flaschen mehr verkauft hatte?

Und überhaupt, wo war die Mutter des Jungen, der oben immer und immer wieder dieselbe Sequenz eines stumpfsinnigen Computerspiels herunterspielte? Was bedeutete die Äußerung V*** D***, M. H*** habe ein Problem mit Frauen und Gewalt? Wieso stand das Putzzeug noch immer im Fahrstuhl und wieso war der Boden komplett mit Wasser bedeckt, als ich das erste Mal dort war? Und weshalb nahm er damals nicht den Fahrstuhl, um in sein Wohnhaus zu gelangen. Wo war die Frau? Und woher hat der Rosé-Champagner seine rote Farbe?

***

Anmerkung:

Der Verfasser der vorstehenden Zeilen, mein Freund und Kollege Dr. K*** meldet sich schon seit Wochen nicht mehr bei mir. Sein privater Telephonanschluss scheint abgemeldet zu sein und in der Kanzlei heißt es, er sei auf ungewisse Zeit verreist.